Du lachst mich neben Stevia im Supermarkt an. Du kennst meinen Bäcker wohl schon beim Vornamen. Du bist der beste Freund von laktosefreiem, fettarmem Frozen Yoghurt. Du hast mehr Propaganda-Webseiten im Internet, die dich hemmungslos loben, als manche zwielichtige Partei. Wahrscheinlich bist Du das Centerfold in aktuellen Frauenzeitschriften mit der Tagline „Schlank ohne Hungern“ und warst 2015 Starschnitt in der BRAVO. Du bist Chia!
Oh Chia-Samen, Du wiederentdeckte Inka-Saat, Du Anti-Aging-Creme zum Essen, Du gelobtes Wunder zum Abnehmen, Du legendärer Heilsamen der Maya, Du perfekte Nährstoffbombe, Du potentes Aztekenkorn. DU NERVST! Und zwar nicht nur mich.
Denn – das wissen wir beide – Du hast jahrhundertelang deine Existent in Belanglosigkeit geführt und da gehörst Du ehrlich gesagt auch hin!
Als Açaí- und Goji-Beeren nicht mehr hipp genug waren und schon mainstreamig in Kaugummis verarbeitet wurden, musste ein würdiger Erbe ins Reformhaus-Regal am Prenzlauer Berg und da kamst Du angekrochen. Denn Du bist kein gewöhnliches Nährmittel, oh nein – Du bist Chia, Du bist Superfood! Welcher Marketing-Stratege dich (wieder-)entdeckt hat, weiß ich nicht. Aber er hat ganze Arbeit geleistet und dich in einen Allrounder als Salat-Topping, Körnerbrötchenzutat und pflanzlichen Schleimstoff verwandelt.
Aber wenn sich alle Superfoods zu einer Justice League zusammenschließen würden… Du wärst lediglich Aquaman! Deine Superkraft entwickelst Du im Wasser, dann wirst Du Kohlenhydrat-Glibber ohne Geschmack, mit dem optischen Charme von befruchtetem Froschlaich. Dann wirst Du wahlweise die Grundzutat für vegetarischen Pudding oder veganer Ei-Ersatz zum Backen.
Liegst Du hingegen vor dem Verzehr auf dem Trockenen, dann quillst Du eben im Darm. Und rächst dich an jenen, die dich über die Ernährungsempfehlung hinaus essen: bei genug Wasser mit Durchfall und bei zu wenig Wasser mit enormer Verstopfung, die schon mal operativ entfernt werden muss. Blähungen begleiten dich sowieso, für ballaststoffreiches Essen gehört sich das nun mal.
Du bist ein mexikanischer Salbei und hast in gewisser Weise blaues Blut, denn Du kommst aus einer edlen Pflanzen-Unterfamilie, den Nepetoideae. Damit kannst Du dich einreihen, in wohlklingende Namen wie Basilikum, Bohnenkraut, Lavendel, Minze, Oregano, Rosmarin, Salbei, Thymian und Zitronenmelisse. Nur haben die meisten Verwandten von dir etwas, das dir vollständig fehlt: Aroma. Du als schwarzes Schaf teilst dir nur die Allergene ihnen und überraschst Empfindliche mit Bauchkrämpfen, Hautausschlag oder tränenden Augen.
Doch der Glaube der Lebensmittelindustrie in dich ist ungebrochen, auch wenn erste Tierversuche vermuten lassen, dass Du neben Allergien auch Entzündungen förderst. Seit Neuestem kennt man übrigens noch einen weiteren Übeltäter, der in deiner Schale steckt: Phytinsäure. Das ist nun ärgerlich, da diese die unangenehme Eigenschaft hat, wertvolle Mineralstoffe unlöslich zu binden.
Aber Du bist Chia – der Inbegriff von Clean Eating, dabei koscher, halāl und so paleo, dass dir kritische Studien nichts anhaben können. Du bist Superfood für die impfkritischen Eliten, die Fakten nicht interessieren. Da sind dir auch alle Studien egal, die zeigen, dass man mit dir kein Körpergewicht verliert, genauso viele Falten bekommt oder genauso oft krank wird. Schließlich kennt niemand die Langzeitauswirkungen deines Konsums; diese werden dich sicher noch heilig sprechen.
Ja, die Azteken haben dich gegessen, damals. Aber sobald ihre Nachfahren eine Alternative fanden, warst Du weg vom Fenster. Wobei… nicht ganz. Vor 15 Jahren wurdest Du noch einmal von der Futtermittelwirtschaft als besseres Hühnerfutter eingeführt, denn wirst Du verfüttert, dann sind die Eier reicher an Omega-3. Nur konntest Du dich nicht einmal in dieser Position halten, denn die Hühner legten plötzlich kleinere Eier.
Apropos: Du enthaltest mehr Omega-3-Fettsäuren als Papier-Servietten, mehr Antioxidantien als Batterien, mehr Eisen als Orangen, mehr Calcium als Fingernägel, mehr Magnesium als Zigaretten und mehr Ballaststoffe als Wasser.
Natürlich vergleicht man dich nicht mit echten Alternativen, wie Leinsamen – denn die haben ebenso viel Omega-3-Fettsäuren und das für 4 Euro pro Kilogramm. Das ist unfair, denn Du bist hipp. So lässt Du dich auch viel besser für 30 Euro pro Packung verkaufen.
Sabbernd glückliche LOHAS folgen deinen Weisheiten, löffeln deinen Schleim und defäktieren auf die Nachhaltigkeits-Bilanz, die Du und deine Beeren-, Wurzel-, Frucht- und Samen-Superfood-Kollegen aus Übersee mit sich bringen. Scheinbar machen euch erst die unerträglich weiten Transportwege und die Quasi-Neuheit so richtig super. Einen Hype um Heidelbeeren, Bärlauch und Esskastanien habe ich zumindest nicht bemerkt und auch keine Vermarktung als Nährstoff-Wunder.
Da scheint es doch sinnvoller, deinen Erzeugerländern ihre landwirtschaftlichen Produkte abzukaufen. Damit wir uns hier zu Höchstpreisen glücklich fressen können, während die Bauern dort nicht einmal den landesüblichen Mindestlohn bekommen. Doppelt perfide, denn dein Ertrag ist, im Vergleich zu anderen Nahrungspflanzen, allenfalls dürftig. Statt Ackerfläche für sättigende Kulturpflanzen gibt es dank dir, Chia, nun Anbaufläche für deinen gehypten Superschleim. Natürlich nicht mehr traditionell angebaut, das wäre ineffizient. Pflanzenhormone beschleunigen und synchronisieren das Keimen deiner Samenkapseln. Du bettest dich auf von Unkraut befreiter Erde, vorbehandelt mit einem bei uns verbotenem Bodenherbizid. Dort kannst Du endlich beschleunigt wachsen, indem man dich mit einem ebenfalls umstrittenen Bodenherbizid besprüht.
Zum Glück hat der Markt längst deinen Nachfolger auserkoren. Wer ein echter Hipster ist, der isst nun Kale. Also gewöhnlichen Grünkohl.
Der letzte Schrei – für New Yorker und sportliche Kalifornier. Die kennen unser Wintergemüse nämlich noch nicht und mögen es daher auch (noch) nicht mit Kassler und Kochwurst, sondern leicht und figurbewusst. Die New York Times liefert in ihrer Kochabteilung schon über 200 leichte Gerichte für Kale. Als grüner Smoothie mit Orange und Spinat, als Salat mit Wassermelonen und Schafkäse oder leichtes Sößchen zur ordinären Kartoffel.
Und bei uns? Da ist Grünkohl heimisch, bekannt und günstig. Als Superfood wird Grünkohl also einen schweren Stand haben.
Quelle: Laufmotivation